Wie viele Menschen in Deutschland sind von ME/CFS betroffen?

Wahrscheinlich gibt es keine andere Erkrankung, die so oft vorkommt, so schwerwiegend ist und zugleich so unerforscht bleibt wie ME. Wie hoch die Prävalenz (Häufigkeit in der Bevölkerung) ist, lässt sich leider nicht genau sagen.

Warum?
Und sind die Zahlen wirklich so schwer greifbar?

ME ist eine schwere neuroimmunologische Multisystemerkrankung und dennoch kennen viele sie nicht. Noch schlimmer: Sie ist immer noch kein Thema im Medizinstudium und das, obwohl die WHO die Erkrankung bereits 1969 als Neurologische Erkrankung klassifiziert hat. Trotzdem kursiert noch immer das Vorurteil, es handle sich „nur“ um Erschöpfung. Und noch immer sind verlässliche Zahlen zur tatsächlichen Betroffenenzahl schwer zu finden. Warum ist das so?

Zwei ehrliche Chefärzte und eine erschütternde Erkenntnis

In einem Artikel der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung vom 29. Oktober 2023 heißt es:

„Nach 28 Jahren Kinderneurologie habe ich das erste Mal von ME/CFS gehört“, sagt Thomas Bast, Chefarzt der Kinderklinik am Epilepsiezentrum Kork in Kehl.
Auch Patrick Gerner, Chefarzt der Kinderklinik am Ortenau-Klinikum, berichtet, er habe die Erkrankung vor Antritt seiner Stelle nicht gekannt.

(Quelle: FAZ, 29.10.2023 – vollständiger Artikel: Link)

Was zunächst schockierend klingt, ist in Wahrheit der Schlüssel zum Problem: Solange Ärzt*innen nichts über ME wissen, wird die Erkrankung auch nicht diagnostiziert. Und wenn sie nicht diagnostiziert wird, taucht sie in keiner Statistik auf.

Die Spirale aus Stigmatisierung, Unwissenheit und Nicht- bzw. Fehldiagnosen

Seit Jahrzehnten wird ME stigmatisiert, oft psychologisiert und heruntergespielt. Die Betroffenen werden nicht ernst genommen. Insbesondere dann, wenn sie „nicht krank genug“ aussehen. Wer nur mild oder moderat betroffen ist, wird selten vollständig durchdiagnostiziert. Wer schwerstkrank ist, kann meist gar nicht mehr zu ärztlichen Terminen erscheinen. Das führt zu einer massiven Untererfassung.

Dazu kommt: Viele Ärzt*innen verwechseln ME mit Fibromyalgie, Migräne, Depression, psychosomatischen Beschwerden, chronischer Erschöpfung oder Burnout. Ein einmal gesetzter Diagnosecode bleibt oft jahrelang bestehen auch wenn er nicht zutrifft.

Was sagen die offiziellen Zahlen?

Schätzungen zur Betroffenenzahl schwanken stark:

Jahr/Zeitraum (Quelle)Betroffene laut Schätzung
Vor der Pandemie (IQWiG)140.000 bis 310.000
Vor der Pandemie (DG ME/CFS)ca. 250.000
KBV-Daten (2023)620.000
Risklayer / mecfs-research.org (2024)650.000
meine geschätze Hochrechnung aus Hamburg (2025)1.800.000

Vor der COVID-19-Pandemie lag die geschätzte Zahl der ME-Betroffenen in Deutschland bei etwa 140 000 bis 310 000 laut dem Institut für Qualität und Wirtschaftlichkeit im Gesundheitswesen (IQWiG) und bei rund 250 000 laut der Deutschen Gesellschaft für ME/CFS. Im Jahr 2023 wurden laut der Kassenärztlichen Bundesvereinigung (KBV) bereits 620 000 Behandlungsfälle mit der Diagnose ME/CFS registriert (vgl. Schmidt, H., RiffReporter, 2024). Modellierungen der ME/CFS Research Foundation und des Analyseunternehmens Risklayer gehen für Ende 2024 von etwa 650 000 Betroffenen aus, während eine Hochrechnung auf Basis von Versorgungsdaten der Stadt Hamburg für 2025 sogar auf bis zu 1,8 Millionen ME-Erkrankte in Deutschland schließen lässt.

Hamburg: Ein Sonderfall mit Tragweite?

In Hamburg wurde am 3. Dezember 2024 eine Kleine Anfrage des Abgeordneten Deniz Celik (DIE LINKE) vom Senat beantwortet. Er fragte „Wie viele Hamburger*innen sind von Post-COVID oder ME/CFS betroffen?“

(Auszug aus Drucksache 22/16954 der Bürgerschaft Hamburg, 2024)

Die Zahlen zeigen: Von 2018 bis Mitte 2024 wurden in Hamburg 42.055 Menschen erstmals mit ME (ICD-10 G93.3) diagnostiziert.

Hamburg hat rund 1,9 Millionen Einwohner. Das ergibt eine ME-Prävalenz von etwa 2,2 %.

Wendet man diese Rate auf die deutsche Gesamtbevölkerung (ca. 84 Mio.) an, ergibt sich folgende Hochrechnung:

84 Millionen Gesamtbevölkerung x 2,2% = 1.859.274 potenziell Betroffene in Deutschland.

Besseres Wissen – genauere Diagnosen

Warum ist diese Zahl so viel höher als alle bisherigen Schätzungen? Möglicherweise, weil Hamburg eine besondere Rolle spielt. Denn hier gibt es Prof. Dr. Michael Stark, Facharzt, Forscher und Therapeut für ME, LongCovid und Post‑Vac‑Syndrom. Als Psychiater arbeitet er seit über 30 Jahren sowohl klinisch als auch ambulant im Bereich chronischer Erschöpfungserkrankungen und hat sich als eine Art kompetente “Anlaufstelle” etabliert. Er deckt seit Jahren ME-Fehldiagnosen auf und klärt gezielt darüber auf.

Auf seiner Webseite heißt es:

„Zahlreiche Patienten kamen durch eine Fehldiagnose zu mir. Sie fühlten sich permanent erschöpft … litten an keiner psychischen Erkrankung, wie einer Depression, sondern an der schweren Erschöpfungskrankheit ME/CFS. … Das weit verbreitete Unwissen motivierte mich, mich in diesem Bereich zu engagieren.“

Prof. Stark Fatigue Zentrum

Durch seine Aufklärungsarbeit hat sich das Wissen über ME in Hamburg signifikant verbessert. Diese erhöhte Kenntnislage wirkt sich vermutlich direkt auf die Diagnoserate aus.

Warum die offiziellen Zahlen so weit auseinanderliegen

Die offiziellen Zahlen – egal ob von der KBV, vom IQWiG oder von Forschungsprojekten wie dem der ME/CFS Research Foundation – basieren auf vorhandenen Diagnosen (deuschlandweit). Und diese Diagnosen wiederum setzen voraus, dass Ärzt*innen die Erkrankung kennen. In einem Land, in dem selbst Chefärzte nach Jahrzehnten Berufserfahrung noch nie von ME/CFS gehört haben, ist das ein systemisches Problem.

Die tatsächliche Zahl der Betroffenen liegt daher vermutlich weit über den bekannten Schätzungen.

Wenn also jemand fragt:

„Wie viele Menschen haben in Deutschland ME/CFS?“

Dann ist die ehrlichste Antwort:

Weit über 650.000 – vermutlich bis zu 1,8 Millionen.

Quellen:
  1. Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung. (2023, 29. Oktober). Chronisches Fatigue-Syndrom – das steckt hinter der Erkrankung. FAZ. Link zum Artikel
  2. Bürgerschaft der Freien und Hansestadt Hamburg. (2024, 3. Dezember). Wie viele Hamburger*innen sind von Post‑COVID oder ME/CFS betroffen? Drucksache 22/16954. Link zur Drucksache
  3. Institut für Qualität und Wirtschaftlichkeit im Gesundheitswesen (IQWiG). (2023, 12. September). ME/CFS – Krankheitsbild mit vielen Fragezeichen. IQWiG. Link
  4. Schmidt, H. (2024, 15. Juli). Rekordzahl bei ME/CFS-FällenLong Covid lässt chronisches Erschöpfungssyndrom in Statistiken steigen. RiffReporter. Link zum Artikel
  5. Deutsche Gesellschaft für ME/CFS. (2025, 22. Juli). Daten & Fakten. Link
  6. ME/CFS Research Foundation & Risklayer. (2025, 7. Mai). ME/CFS und Long COVID – Bericht zu Prävalenz und Kosten in Deutschland. Link

1 Gedanke zu „Wie viele Menschen in Deutschland sind von ME/CFS betroffen?“

  1. Liebe Molly, danke für den verständlichen Beitrag mit der tollen Quellen-Nachvollziehbarkeit!
    Die mögliche Höhe der Erkrankten-Dunkelziffer ist erschreckend. Und die gerade durch die Bundesregierung verkündeten Forschungsgelder von 10-15 Millionen Euro auf auch noch 3 Jahre verteilt sind ein Tropfen auf dem heißen Stein im Verhältnis zur möglichen Erkrankten-Zahl. Und ich finde Deine Hochrechnung sehr stichhaltig.

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