Fünfter Jahrestag

Liebes Tagebuch, heute ist der 6. Mai 2025.

Fünf Jahre ist es nun her.

Ich hätte es eigentlich besser wissen müssen. Es ist doch jedes Jahr am 6. Mai.

Diese belastende Unruhe, das unaufhörliche Frieren, die grundlose Gereiztheit, die übertriebene Angst. Alles Zustände, die mich schleichend, über Tage hinweg, nach und nach, zurück in die andere Welt ziehen. Immer das Selbe. Und doch überrascht es mich jedes Mal aufs Neue. Mein Körper weiß es längst, bevor mein Kopf es richtig begreift. Er erinnert sich an jede Berührung, jedes Wort, jede Manipulation. Es ist, als hätte jede Zelle meines Körpers ein Gedächtnis, ein eingebranntes Alarmsystem, das mich – Jahr für Jahr – an diesem Tag zu retten versucht.

Und doch bin ich jedes Mal fassungslos, wenn ich erkenne, dass ich es nicht kommen sehen habe.

Warum blende ich den Jahrestag der psychischen Vergewaltigung, die sich so lebendig anfühlte, immer wieder aus?

Heute vor fünf Jahren war der erste sexuelle Übergriff.

Wir waren in seiner Wohnung. Es war Vollmond. Mitternacht. Ich dachte, ich wollte das auch.

Er war der Mensch, dem ich mein Innerstes anvertraut hatte. Der mich in meiner Trauer begleiten sollte. Ich war verwundbar, hilflos. Ich war seine schutzbedürftige Patientin. Und er mein psychologischer Psychotherapeut!

Statt Hilfe zu erfahren, erlebte ich durch ein starkes Machtgefälle, erneut lebensbedrohliches Leid.

Auf eine Art, die ich bis Heute kaum begreifen kann. Er wusste alles über mich. Er kannte meine Stärken, meine Schwächen, meine Ängste, meine Sehnsüchte. Und er verwendete all sein Wissen gegen mich. Mit kalter Berechnung.

Das zu schreiben, fällt mir, selbst heute noch, schwer. Das alles erneut – und erneut, immer wieder (!) zulassen zu müssen. Diese Wunden jedes Mal wieder stümperhaft zu versorgen.

Eine dieser Wunden, und ein Punkt, den ich einfach nicht begreife, ist der, dass ich mich damals selbst verlor.https://res.craft.do/user/full/062754e1-1dfe-46fc-7e64-02d066c17a9a/doc/da839009-1a65-4116-bdf6-109c7445ecdb/f08a1c84-621e-4ffc-83ea-ce83b4f1d8a1

Ich war nicht mehr ich.

Es drehte sich alles nur noch um ihn. Seine Launen, seine Bedürfnisse, seine Anerkennung.

Meine Kinder, mein Mann, meine Freunde, mein Zuhause – alles bedeutungslos.

Meine Welt existierte nicht mehr. Ich, und alles um mich herum, drehte sich nur noch in seiner Welt. Nach seinen Regeln. Nach seinen Wünschen.

Ich war wie hypnotisiert. Hörig. Gefangen. Allein.

Dass ich mich daraus aus eigener Kraft befreien konnte, dass die Justiz mir Recht gab, dass man ihm den 15-fachen Missbrauch (§174c StGB) nachgewiesen hat – all das reicht (mir, meinem Körper, meiner Seele) nicht aus, um diesen Tag ungeschehen zu machen.

Und auch nicht, um zu verhindern, dass ich all die darauffolgenden Jahre diesen Tag erneut durchleben muss.

Ist das gerecht?

Ich wünsche mir nichts sehnlicher als inneren Frieden und Sicherheit. Ich wünsche mir die wärmende Güte zurück in meinen Körper.

Jetzt, da ich all diese Worte schreibe, lässt diese eisige Kälte in mir langsam nach. Zum Glück. Denn seit Tagen friere ich.

Ich fror heute so schlimm, dass, egal, wie viele Decken mich schützten, wie viel Tee ich trank und wie dick meine Socken waren, ich wurde nicht warm.

Weil diese bittere Kälte tief von innen heraus kam. Es war die Kälte von damals. Der Moment, in dem mein Urvertrauen zerbrach.

Ich versuche, mich zu reorientieren. Nenne laut, was ich sehe, höre, spüre. Ich sage mir, dass ich heute sicher bin. Dass ich in meinem eigenen Bett liege. Dass mir niemand etwas antut.

Dass heute nicht damals ist.

Ich weiß: Ich zerbreche nicht an den Geschehnissen.

Ich habe überlebt. Ich lebe.

Ich schreibe. Ich fühle. Ich reflektiere. Ich halte stand. Auch wenn es mich jedes Jahr wieder packt und runter ziehen will.

Ich bleibe stark. Für mich, für meine Kinder, für meinen Mann, für meine Mitmenschen.

Was ich mir wünsche?

Frieden.

Sicherheit.

Geborgenheit.

Und wärmende, liebevolle Güte.

Dankbar zu Leben,

Deine Molly.

Kommentar verfassen

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert

Nach oben scrollen